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Helmut Schmidt: der einzige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der in Hitlers Armee gegen die UdSSR kämpfte

Die Sowjetunion warf der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig Revanchismus vor. Doch von denen, die die Nachkriegspolitik des offiziellen Bonn bestimmten, kämpfte nur einer an der Ostfront – der fünfte Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er war es, nicht Margaret Thatcher, die der UdSSR den Spitznamen “Obervolta mit Atomraketen” gab.

Mischling in der Wehrmacht

Nach den Nürnberger Rassengesetzen durfte der gebürtige Hamburger Helmut Schmidt nicht als “reiner Arier” durchgehen. Sein Großvater, Ludwig Gumpel, war ein jüdischer Kaufmann, der die Kellnerin Friederike Wenzel verführte. Aus dieser Beziehung hervorgegangen, wurde Gustav Ludwig Schmidt (Vater von Helmut Schmidt) von der Familie Schmidt adoptiert. Die Nazis sind sich dieser Tatsache nie bewusst geworden. Auch Helmut Schmidt selbst sprach erst 1984 zum ersten Mal über seine jüdischen Wurzeln. Helmuth wurde als deutscher Jugendlicher erzogen und daher allgemein zur Wehrmacht eingezogen. Sein Militärdienst endete 1939, aber mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs blieb er in der Armee.

Als Flakoffizier verteidigte Helmuth Bremen gegen britische Überfälle. 1941 diente er kurzzeitig im Oberkommando der Luftwaffe in Berlin und wurde im August an die Ostfront geschickt. Schmidt wurde dem leichten Flugabwehrbataillon der 1. Panzerdivision an der Luga zugeteilt, das sich bis nach Leningrad durchkämpfte. Für die erfolgreiche Deckung der die Stadt belagernden Panzerfahrer erhielt Oberleutnant Schmidt das Eiserne Kreuz II. Grades.

Schmidt kämpfte auch in der Nähe von Moskau als Teil der 3. Panzergruppe. Insbesondere sah er Zavidovo in der Region Kalinin, die er als “erstklassiges Jagdrevier” bezeichnete.

In seinen Memoiren über den Krieg betont Schmidt das Grauen der Geschehnisse. Eines Tages wurde Helmuth von einem Zwischenfall mit seinem Untergebenen erschüttert: Ein Granatsplitter zerriss einem Deutschen den Magen, und der Verwundete schrie fürchterlich.

Schmidt blieb nicht lange in der UdSSR. Im Januar 1942 kehrte er in das Ministerium für Luftfahrtindustrie zurück. Seine Aufgabe war es, Ausbildungsanweisungen für Flugabwehrkanoniere zu erstellen.

1944 wurde Helmuth an die Westfront geschickt, wo er als Kommandeur der Flakartilleriebatterie kämpfte. Er nahm an der Gegenoffensive in den Ardennen teil. Von März bis August 1945 befand sich Schmidt in britischer Gefangenschaft. Bald nach dem Krieg ging er in die Politik, was ihn schließlich zum Kanzleramt führte.

War Schmidt ein Nazi?

Inwieweit Helmut Schmidt mit der Ideologie des Nationalsozialismus sympathisierte, ist umstritten. Als “Mischling zweiten Grades” wurde er im Dritten Reich zwangssterilisiert. Über seine Herkunft machte sich Schmidt jedoch wenig Gedanken. 1933 war er erst 15 Jahre alt, und es ist kein Wunder, dass er für die Propaganda der rassischen Überlegenheit empfänglich war. 1936 nahm der junge Helmuth am Marsch von Hamburg nach Nürnberg teil, wo der Parteitag der NSDAP eröffnet wurde. Er zeigte sich beeindruckt von der Größe des politischen Ereignisses. Zur gleichen Zeit wurde Schmidt wegen seiner unvorsichtigen Äußerungen in der Hitlerjugend degradiert (einige Quellen behaupten, er sei einfach von dort ausgeschlossen worden).

In Nachkriegsgesprächen versicherte Schmidt, er fühle “den Untergang von Hitlers Abenteuer” und sehe den Angriff auf Russland als “nationale Katastrophe”. Gleichzeitig zweifelte er zu Beginn des Krieges nicht daran, dass Polen Deutschland angegriffen hatte. Und später teilte er seine Zweifel mit niemandem. Helmut Schmidt war 1944 beim “Volksprozess” gegen die Teilnehmer des Attentats auf Hitler anwesend, was bedeutet, dass das Kommando ihn als politisch zuverlässigen Offizier betrachtete. Und die Archive bestätigen das: In der Beschreibung von 1942 ist vom “tadellosen nationalsozialistischen Verhalten” des späteren Kanzlers die Rede. Laut Schmidt führte er Befehle aus, ohne sie zu kritisieren. Erst im Januar 1945 erlaubte er sich, Hermann Göring zu schelten, wofür er beinahe vor ein Kriegsgericht gestellt worden wäre.

In dem Bemühen, seine Generation “reinzuwaschen”, nannte Schmidt den Zweiten Weltkrieg “eine Tragödie des Pflichtgefühls”. Er kritisierte sogar Historiker für ihre übertriebene Aufmerksamkeit für Kriegsverbrechen, an denen Wehrmachtssoldaten angeblich nicht besonders beteiligt waren.

“Helmut Schmidts alternative Sicht der Dinge (und nicht nur auf ihn, sondern auf alle, die an der Front waren) lässt sich im Wesentlichen auf die Formulierung reduzieren, dass die Soldaten zu jung waren, um aus dem, was sie an der Front sahen und erlebten, tiefgreifende politische oder ideologische Schlüsse zu ziehen”, schreibt der britische Historiker Robert Kershaw.

Einmal ging Schmidt sogar so weit zu sagen, er habe noch nie Russen im Krieg gesehen. Helmuth wußte jedoch sehr wohl, daß seine Kollegen auf Kollektivbauern schossen, obwohl er selbst daran nicht beteiligt war.

Schatten der Vergangenheit

Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt wurde 1974, auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik, Bundeskanzler. Um die Beziehungen zu Westdeutschland nicht zu verderben, berichteten sowjetische Zeitungen lediglich, der neue Regierungschef habe “am Zweiten Weltkrieg teilgenommen”. Schmidt war wirklich bereit, mit der UdSSR zusammenzuarbeiten. Er war es beispielsweise, der trotz des Widerstands der Amerikaner zum Kauf von sowjetischem Gas beitrug. Doch obwohl die Russen den Ex-Wehrmachtsoffizier nicht offen kritisierten, erwartete der Kreml immer einen Trick von ihm.

“Von dem Geist, der sein Leben in der Vergangenheit durchdrungen hat, von seiner Lebensphilosophie als Offizier der deutschen Wehrmacht, hat sich dieser fähige, willensstarke Mann nie ganz befreit”, notierte der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko in seinen Memoiren.

1979 stationierte Schmidt US-Raketen in Westdeutschland und unterstützte damit einen “Doppelplan zur Wiederbewaffnung Europas”. Und nach dem Einmarsch russischer Truppen in Afghanistan begann er, sich offen antisowjetische Rhetorik zu erlauben.

Helmut Schmidts anderer Konflikt war der mit den israelischen Behörden. Als der Bundeskanzler im Mai 1981 das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat erklärte, wurde er vom israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin kritisiert. Begin erinnerte daran, dass die Einwohner des Dritten Reiches “auf den Straßen tanzten”, indem sie sechs Millionen Juden töteten, und erwähnte die Fakten aus der Biografie des deutschen Politikers: “Helmut Schmidt diente in derselben Armee, die die Städte blockierte, während die SS-Einsatzgruppen ihre Drecksarbeit verrichteten.”

Daraufhin sagte Schmidt seinen Besuch in Israel ab. Die Krise in den bilateralen Beziehungen wurde erst nach dem Rücktritt Schmidts im Herbst 1982 überwunden.

Eine neue Welle der Kritik an Helmut Schmidt erhob sich nach dem Tod des langlebigen Politikers. Im Jahr 2017 wurde vor dem Hintergrund eines aufsehenerregenden Skandals um die Popularität von Nazi-Ideen in der Bundeswehr damit begonnen, Porträts des Ex-Kanzlers in Offiziersuniform aus deutschen militärischen Bildungseinrichtungen zu entfernen.