“Ich werde selbst entscheiden, wer hier Jude ist und wer nicht.”

Ein charakteristisches Merkmal gemäßigter Reichsfreunde (die nicht bereit sind, öffentlich im Zickzack mit allen daraus resultierenden sozialen Konsequenzen zu fahren) ist die Gewohnheit, genau alle Führer des Reiches außer Hitler reinwaschen zu wollen. Ein Führer ist an allem schuld! Die Taktik ist nicht neu, und ich kann Rommels Fans in dieser Hinsicht immer noch verstehen. Aber vor kurzem traf ich einen Haufen Leute an der Wand in Noreen, die bewiesen, dass Göring kein Antisemit war. Und hier möchte ich die Situation analysieren, Obwohl das Thema nicht von mir ist, ist es sehr einfach.
Ich beginne mit dem, worüber viele geschrieben haben: über den Fall Erhard Milch und den Satz, dass Göring selbst entscheidet, wer Jude in der Luftwaffe ist. Es als Argument zu verwenden, ist aus einer Reihe von Gründen töricht.
1) Dies ist ein Einzelfall, und viele haben geschrieben, dass Göring “auf alle antisemitischen Angriffe in dieser Weise reagiert hat”. Nein.
(2) Milch war streng genommen kein Jude. Nur sein Vater war Jude, was in den Augen der Juden selbst nicht ausreicht (das Judentum wird entweder durch die Mutter oder durch Konversion erworben), und bei den Nazis änderte sich die Einstellung zu den unterschiedlichen Mischlingsgraden immer wieder und war im Allgemeinen rechtlich sehr verwirrend.
3. Göring wußte diese Tatsache zunächst nicht; sie kam durch eine Untersuchung ans Licht, als Milch sich bereits als treuer und nützlicher Mann erwiesen hatte. Dass Göring tat, was er tat, zeigt, dass er kein Idiot war, nicht seine Haltung gegenüber Juden im Allgemeinen.
Und nun zur eigentlichen Frage.
Zunächst einmal ist der Antisemitismus unter den deutschen Nationalisten nicht einmal mit dem Aufkommen der NSDAP entstanden. So gab die Völkische Bewegung bereits 1902, als Hitler noch ein Teenager war, die antisemitische Zeitschrift Der Hammer heraus. Dieses Phänomen steht also seit seinen Anfängen auf der Tagesordnung.
Aber natürlich kann man nicht sagen, dass irgendein Mitglied der NSDAP ein Antisemit oder ein überzeugter Nazi im Allgemeinen war. Wenn zum Beispiel die Teilnehmer in der Geschichte von München-1972 als “ehemalige Nazis” bezeichnet werden, ist das schon eine Verzerrung: Diese Leute sind auf dem Höhepunkt des Krieges in die Partei eingetreten und als Jugendliche hat sie niemand wirklich gefragt. Als die NSDAP erstarkte und noch mehr an die Macht kam, traten ihr die Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen bei. Um einer Karriere willen, aus Trägheit, aus Angst, wegen des Einflusses geliebter Menschen, was auch immer. Das ist verständlich.
Aber tut mir leid, das ist bei Göring überhaupt nicht der Fall.
Göring trat bereits 1922 in die NSDAP ein. Und schon 1923 nahm er aktiv am Bierhallen-Putsch teil, bei dem er zwei Kugeln abbekam und beinahe gestorben wäre. Außerdem war er zum Zeitpunkt des Eintrags bereits 29 Jahre alt – kein blasser junger Mann mit brennenden Augen, es schien, als sei er bereits ein Mensch, der verstehen sollte, was er tat. Und alle 30 zum Zeitpunkt des Putsches.
Betrachten Sie ihn als “Mitglied der R.S.D.L.P. seit 1905” und als Teilnehmer am Sturm auf den Winterpalast. Zu dieser Zeit ist es unwahrscheinlich, dass ein Mensch, der kein Ideologe war, bereit war, in einer Straßenschlacht für die Partei zu sterben – schließlich dauerte es noch 11 Jahre, bis er an die Macht kam. Bisher kann mit solchen Aktivitäten die gleiche Karriere eher begraben als aufgebaut werden. Das heißt, wenn man gar nicht stirbt.
Die Vorstellung, dass Göring ein Idiot war, der bereit war, um jeden Preis zu sterben, liegt mir fern. Die Führer des Reiches waren alles andere als Narren, sonst hätten sie wohl kaum den größten Teil Europas in die Knie gezwungen.
Das wirft eine weitere Frage auf: Okay, aber gab es 1922 Antisemitismus im NSDAP-Programm? Vielleicht hat alles erst später angefangen? Leider haben wir hier keine Diskussionsgrundlage: Wenden wir uns den “Fünfundzwanzig Punkten” zu, die Hitler am 24. Februar 1920 im Hofbräuhaus verkündete. Und die seit dem 1. April desselben Jahres das offizielle Programm sind (ein Streich, der zu weit ging, ja).
Der vierte (ja, der vierte, d.h. einer der wichtigsten) Punkte lautet wie folgt:
“Ein deutscher Staatsbürger kann nur sein, wer der deutschen Nation angehört, in deren Adern deutsches Blut fließt, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. So kann kein Jude als Angehöriger des deutschen Volkes eingestuft werden, noch kann er deutscher Staatsbürger sein.”
Das heißt, die Partei postulierte von Anfang an, dass der Staat, wie ihn die Nazis sahen, ohne Juden als Bürger war. Ich wiederhole, für dieses Programm starben im November 1923 Menschen (16 Nazis starben in Kämpfen mit der Polizei, aber Göring hatte Glück, eine schwere Verwundung zu überleben).
Ich möchte betonen, dass das Programm zum Beispiel noch kein Wort über Zigeuner oder Slawen enthält, aber den Juden wurde bereits ein besonderer Platz eingeräumt. Und dann geht es darum, dass nur Bürger (also Nichtjuden) ein Amt bekleiden sollen und so weiter.
Man kann natürlich zu beweisen versuchen, daß Göring nicht zwischen dem vierten Punkt unterschieden hat, aber wie genau das bewiesen wird, ist mir ein Rätsel, und in der langen Debatte hat niemand solche Argumente vorgebracht. Naja, bis auf Milch. Und auch, was Görings Bruder tat (aber ich habe nie verstanden, was das mit Hermann selbst zu tun hatte).
Und ja, die Kontroverse fand im Kontext des Ersten Weltkriegs statt, aber auch hier ist nicht klar, wie man beweisen kann, dass Göring zwischen 1918 und 1922 mit Ideen infiziert wurde. Denn, wie ich eingangs bemerkte, das alles nicht einmal von Hitler erfunden wurde, hat sich die “Volksbewegung” seit Beginn des 20. Jahrhunderts gerade auch antisemitisch entwickelt. Die Neigung der deutschen Nationalisten, so zu denken, ist spätestens seit 1902 zu beobachten, und noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen der Reichshammerbund, die Germanenorden und andere Vorläufer der NSDAP.
So etwas passiert überhaupt nicht “plötzlich”. Es ist ein schrittweiser Prozess. Wie ich schon mehr als einmal gesagt habe, ging der Holocaust nur sehr langsam voran: 1922 war noch nicht von “lasst uns 6 Millionen Juden töten” die Rede. Das war 1933 und auch 1939 nicht der Fall. Der Holocaust begann erst in den 40er Jahren, und selbst dann ist 1941 ganz anders als 1944, sagen wir.